Quellenwert der Postkarten
Gerade topografische Ansichtskarten mit ihren Darstellungen von Strassen, Plätzen, Parks, öffentlichen Gebäuden usw. bieten wertvolles Material für stadtgeschichtliche und ortsbezogene Untersuchungen und werden unter diesem Gesichtspunkt auch oftmals von nationalen Archiven oder Bibliotheken gesammelt.1 Im Unterschied zu «blossen» Fotografien kann bei Postkarten zugleich untersucht werden, welche Ansichten von Produzenten und Verlegern als «bild- und versandwürdig» erachtet wurden und – bei einer Untersuchung über mehrere Jahrzehnte – auch wie sich Motive und der «Geschmack» im Verlaufe der Zeit änderte. Auf das Potenzial für eine «Geschichte des Blicks» auf eine spezifische Ortschaft verweist u.a. das umfangreiche Projekt der Universität Graz – in ihrem Falle die «Geschichte des Blicks auf Graz».2 Obwohl der dort untersuchte Bestand von tausenden Postkarten natürlich umfassendere Erkenntnisse liefern kann, könnten auch beim hiesigen Bestand Veränderungen in der Motivik von Ansichtskarten gewisser Städte – zumindest der häufig vorkommenden wie z.B. Paris – beobachtet werden. Dabei wäre möglicherweise auch im Vergleich mit grösseren Beständen interessant, ob sich der Sammlungsbestand generell durch das Fehlen gewisser Postkartentypen (z.B. thematischen Ansichtskarten resp. sogenannten «Kitschpostkarten») auszeichnet, oder ob sich ein deutlicher Überhang an topografischen Ansichtskarten oder Postkarten mit gewissen Motiven abzeichnet. Aus der Perspektive auf Postkarten als wissensvermehrendes, emanzipatorisches Medium und besonders Ereignispostkarten als «dokumentarischen Momentaufnahmen» mit journalistischem Charakter eröffnen sich auch interessante Blicke auf Wissens- und Interessensbereiche der Kommunikationspartner*innen resp. der Sammler*innen.3
Dabei liessen sich auch Vergleiche zu anderen (kleineren) Postkartensammlungen bzw. Postkartensammelalben der damaligen Zeit zu. Obwohl sich mit ziemlicher Sicherheit kein so deutlicher Schwerpunkt wie z.B. beim Postkartenalbum von Lolotte Funck und dessen Fokus auf der deutschen Monarchie rund um Kaiser Wilhelm II. ergeben wird, könnten gerade die verschickten Ansichten und Korrespondenzen zur Zeit des Ersten Weltkrieges interessant sein. Konkret inwiefern die Absendeländer und Reisetätigkeiten sich während des Krieges verändern, welche Abbildungen versandt wurden und ob der Krieg in den Mitteilungstexten – wie es bei den Postkarten der Familie von Lolotte Funck der Fall war – keine oder nur eine nebensächliche Rolle spielte.4
Für weitere Fragestellungen können auch Produktionsangaben interessante Hinweise liefern, so die Relevanz der Produktionsstätte oder auch die Diversität und Verteilung von Produktionsstätten oder weitere Fragestellungen nach (zentralen) Akteur*innen, deren Regionalität oder Internationalität sowie Konkurrenz- und Koexistenzverhältnissen im Laufe der Zeit.5 Obwohl die im Vergleich mit der Grazer Postkartensammlung bescheidene Anzahl an Quellen diese Fragen natürlich nicht in ähnlicher Breite abzudecken vermag, könnte nach der Erschliessung des Projektbestandes eine Analyse der (Veränderungen der) Produktionsprozesse, -bedingungen und -märkte dennoch interessante Erkenntnisse zur Produktions- und Konsumkultur um die Jahrhundertwende liefern. In vergleichender Perspektive könnten möglicherweise auch Unterschiede zwischen (häufig vorkommenden) Absenderorten festgestellt werden. Gerade bei Produktionspraktiken und Motiven von preisgünstig (produzierten und verkauften) Postkarten schien es zumindest national unterschiedliche Tendenzen oder Vorstellungen zu geben, wie auch die Anekdote eines 1904 an einem «Postkartensalon» anwesenden Franzosen berichtet, der von der «Schwemme an grotesken, lächerlichen und unkünstlerischen Karten aus der Schweiz und aus Deutschland» entrüstet schien. Es wird angenommen, dass er sich dabei u.a. auf farbige Drucke bezog, deren Druckqualität jedoch – u.a. vor lauter Euphorie über den technologischen Fortschritt – bedeutend minderwertiger ausfiel.6 Möglicherweise war diese (nicht nur von gewissen Zeitgenossen) ausgestellte Diagnose eines «rapiden Qualitätsverfalls» auch nur Ausdruck nationaler Tendenzen, jedoch schienen zumindest die für «Kitschpostkarten» typischen Bromsilberkarten ein Phänomen des deutschen Sprachraumes zu sein.7
Die Korrespondenzen sowie die z.T. bekannten Sender*innen und Empfänger*innen bieten das Potenzial, die Kommunikationsbeziehungen zwischen verschiedenen Personen*gruppen zu lokalisieren und die Art, den Inhalt ihrer Korrespondenzen zu untersuchen. Damit könnten sich beispielsweise gerade die Korrespondenzen von Emma und Therese Engler – in Kombination mit anderen Quellen – für eine Untersuchung von weiblicher Geschäftstätigkeit im frühen 20. Jahrhundert als fruchtbar erweisen. Die Transkription der Korrespondenzen und Adressangaben kann auch eine wertvolle Ergänzung zu bisherigen Digitalen Editionen darstellen. So fokussieren sich diejenigen mit transkribierten Korrespondenzen überwiegend auf das Kommunikationsnetz berühmter (männlicher) Persönlichkeiten (z.B. Alfred Escher, August Wilhelm Schlegel, Johann Caspar Lavater, Vincent van Gogh, Alexander von Humboldt) und auch verstärkt auf Briefe als auf Postkarten.
1. Vgl. dazu u.a. die Sammelgrundsätze der Schweizerischen Nationalbibliothek: «Die NB sammelt Ansichtskarten zur Schweiz [1] als visuelles Dokument der helvetisch-topografischen Struktur, [2] zur Abbildung diverser Kulturräume, [3] als visuelle Dokumente der helvetischen und touristischen Kommunikations-Kultur und ihrer Themenvielfalt.», unter: https://www.nb.admin.ch/snl/de/home/ueber-uns/gs/sammlungen/fotografien/ansichtskarten.html (Zugriff am 28.12.2021).
2. Vgl. u.a. Postkartensammlung GrazMuseumOnline: https://gams.uni-graz.at/archive/objects/context:gm/methods/sdef:Context/get?mode=about (Zugriff am 10.12.2021).
3. Vgl. zu Ereignispostkarten u.a. Graf, Nicole: Wie man 1920 ein aktuelles Ereignis dokumentierte, Version vom 11.08.2017, DOI: https://doi.org/10.35016/ethz-cs-3496-de (Zugriff am 10.01.2022).
4. Zum Postkartenalbum von Lolotte Funck, vgl. Schüssler, Franziska: Instagram vor 100 Jahren: https://shmh.de/de/hamburgwissen/altonaer-museum/bildpostkarte-instagram-vor-100-jahren (Zugriff am 15.01.2022).
5. Vgl. zu diesen Fragestellungen u.a. Postkartensammlung GrazMuseum Online: https://gams.uni-graz.at/archive/objects/context:gm/methods/sdef:Context/get?mode=about (Zugriff am 12.01.2022).
6. Vgl. Mäder, Claudia: Postkarte, S. 48ff. (in: Thomas Brückner/Benedikt Pfister (Hg.): Kartenland Schweiz, Basel 2021.)
7. Vogel, Fritz Franz: Kitsch per Post. Das gesüsste Leben auf Bromsilberkarten von 1895 bis 1920, S. 22. Beispiele für sogenannte «Kitschpostkarten» ebd. Oder auch online unter: https://bildpostkarten.uni-osnabrueck.de/frontend/index.php/Browse/objects (Zugriff am 05.01.2022).
Ariane Engler, Version vom 15.02.2022.